Als ich von Kerstin Steinkamps Blogparade „Leeres Nest – Fluch oder Segen“ las, erinnerte ich mich an meine Zeit, als meine zwei Kinder auszogen. 15 Jahre ist das inzwischen her. Unsere Kinder gehören uns nicht, wir tun gut daran, danach unser Handeln und Leben auszurichten. Heute, an diesem warmen Sommertag im August, lasse ich jene Zeit noch einmal auferstehen. Der Auszug meiner Kinder aus unserem gemeinsamen Zuhause prägte mich nachhaltig. Die Jahre danach haben eindeutig dazu beigetragen, dass ich wurde, was ich heute bin.
Zwei, die auszogen
Ihre Entscheidung kam sehr plötzlich, hatte viele Hintergründe. Trennung und Scheidung waren für alle Beteiligten eine schwere Zeit. Selbst aufgewachsen mit viel Liebe und Zusammenhalt wollte ich immer meine eigene kleine, heile Welt und Familie. Die ersten Jahre lebten die Kinder bei mir, wir richteten uns ein, fanden neue Routinen. Nun, wir alle wissen, das Leben spielt oft mit vielen Unbekannten. Auch mir offenbarten sich verdeckte Karten recht spät. Ich war zutiefst überrascht und schockiert, als meine Kinder ihren Auszug ankündigten. Doch daran ändern konnte ich nichts. Ich fand mich quasi über Nacht allein mit mir wieder – sie meiner Fürsorge und ich meiner Mutterrolle enthoben.
Allein weitermachen – wie ging das?
Ich war über die Maßen verletzt. Fühlte mich verlassen von denen, die ich am meisten liebte, fortan ausgeschlossen aus ihrem Leben. Heute weiß ich, sie konnten meinen Schmerz nicht verstehen und mit meiner Trauer nicht umgehen. Ich zog Schutzmauern um mich. Verraten und verkauft, unfair behandelt, so erlebte ich meine Tage. Trauer, Angst, Wut und Unverständnis wechselten sich ab.
Eltern sein haben wir alle nicht vorher gelernt. Wir werden durch die Geburt unserer Kinder in diese neue Rolle hineingeworfen und verhalten uns, je nach eigener Erfahrung und Persönlichkeitsstruktur, vorteilhaft oder auch nicht. Natürlich sollte niemand seine Macht gegenüber Kindern oder Schwächeren zum eigenen Vorteil ausspielen. Und wenn doch, ist es angebracht, Verantwortung und Größe zu zeigen, um eigenes Handeln im Nachhinein zu erklären und um Verzeihung zu bitten. Das eigene Verhalten ist die Messlatte, nach der Menschen beurteilt werden.
Meiner Liebe waren meine Kinder sich jederzeit bewusst, einfach, weil ich nicht müde wurde, sie ihnen zu zeigen. Doch natürlich wollten sie auch die ihres Vaters wieder erleben, ihm nahe sein. Niemand kann ungeschehen machen, was war: der unsägliche Schmerz und all die Tränen – auf beiden Seiten. Jedoch nährt sich daraus bis heute meine Fähigkeit zu verzeihen.
Und ich? Wie ging es mit mir weiter? Ich lag darnieder. Finanziell, denn ich musste weiterhin den Kredit für unser Zuhause bedienen, dazu kam der nun von mir zu entrichtende Kindesunterhalt. Viel schwerer jedoch wog der Verlust meiner emotionalen Heimat als Mutter. Ich war nicht mehr Teil ihres Alltags, hatte keinen Zugang mehr zu ihren Gedanken, ihrer Entwicklung. Diese Erkenntnis trieb mich in tiefe Traurigkeit. Sie trotz relativer Wohnnähe emotional in weiter Ferne zu wissen, wob mich in einen dicken Kokon aus Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit.
Rückblickend weiß ich nicht mehr genau, wie ich diese Zeit überstand, suchte mir psychologische Hilfe, begann exzessiv mit dem Laufen, flüchtete mich in neue Bekanntschaften. Die Gespräche mit meiner Therapeutin richteten mich auf. Hielten und bestärkten mich in meiner Wahrnehmung, dass ich weder meine Kinder vernachlässigt, noch falsch behandelt hatte. Ich lernte, sie gehen zu lassen, im Vertrauen darauf, dass es ihnen gut ging. Ich übte mich in neuen Routinen, sie ließen mich morgens aufstehen, arbeiten und weitermachen. Irgendwie.
Meine Lähmung überwand ich mit Aktion. Ich erhöhte meine Arbeitszeit von halbtags auf Vollzeit, suchte Wege aus meiner desolaten, finanziellen Situation. Vermietete das Haus (leider entpuppten sich die Neuen als Mietnomaden, aber das ist eine andere Geschichte), zog weg aus dem kleinen Hunsrückdorf, das für mich zu klein geworden war.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ (Aus Stufen von Hermann Hesse)
Meine Flucht
Letzten Endes waren diese Aktionen reine Fluchtreaktionen. Flucht aus meinen Erinnerungen an mein Leben als „Mama mit Kindern“. Flucht aus dem Vergleich „die sind glücklich zusammen“ und „ich bin verlassen“. Auch war es eine Flucht aus der gemeinsamen Vergangenheit, die mich im Dorf an jeder Ecke ansprang, an gemeinsame Feste, Freunde und Bekannte. Ich ertrug diese Erinnerungen nicht länger und war froh, als sich mir die Gelegenheit zum Wegzug bot.
Und doch glückte mir die Flucht nicht. Natürlich klebte die Vergangenheit an mir, holte mich ein, erinnerte mich trotz Ortswechsel permanent. Ich vermisste mein altes Leben, tat mich sehr schwer damit, meine Trauer über das verlorene Zusammenleben zu überwinden. Hätte sie so gerne weiter durch ihre Jugend- und Schulzeit weiterbegleitet. Meine Kinder wussten immer, wo ich war und was ich machte. Dass sie immer einen Platz bei mir hätten, meine Liebe für sie lebte und ich an sie dachte.
Und doch hatte ich meinen unfreiwilligen Weg angenommen und zu meinem gemacht, war für mich allein weitergegangen. Jahre früher zwar als geplant, entdeckte ich meine Freiheit und nutzte sie. Keine Fremdbestimmung durch Termine, keine Verpflichtungen, kein „Was essen wir heute“. Ich kümmerte mich um mich; lernte, auf mich zu achten und dachte nicht mehr zuerst an andere. Mein Mutter-Sein hatte ich sehr geliebt, jedoch inzwischen gelernt, auch andere Facetten an mir zu entdecken und auszuleben.
Ich wechselte meinen Wohnort ein weiteres Mal, zog an die Mosel und mietete mich in eine Dachgeschosswohnung ein, mit nur noch meinem Namen auf dem Klingelschild. Fernab von alten Bekannten oder Freunden leckte ich meine Wunden und wartete. Mied neue Bekanntschaften, misstraute allem und jedem. Der Stillstand meiner Zurückgezogenheit brachte ein inneres Gesunden mit, langsam, aber stetig.
Wie mich das Schreiben fand
Ich wusste erst, worauf ich wartete, als ich eine Anzeige für ein Schreibwochenende in einem Kloster entdeckte. Schreiben. Schreiben! Ja! Meine Gedanken aus meinem Kopf herausschreiben, dieses Vorgehen hatte mir immer schon geholfen. In Beziehungsdingen, bei Problemen und Fragen. Mich schreibend mit meinem Leben auseinandersetzen, mich ausdrücken und das auf kreative Art und Weise, im Kreise von Gleichgesinnten. Das könnte – und würde – meine Lösung sein. Ein Mich-neu-Erfinden, gekoppelt mit Therapie und Erinnerung. Diese Idee, die Aufgabe wurde, gab mir wieder Sinn und schenkte mir Beschäftigung und Entwicklung über das alltägliche Einerlei hinaus.
Ich engagierte mich ehrenamtlich für ein Online-Literaturmagazin, besuchte weitere Schreibseminare, las sehr viele Bücher und übte. Übte mich im Kreativen Schreiben, studierte dies sogar vier Semester lang. Und fand Erfüllung. Erkannte mein Talent, das mir als Lernende neue Möglichkeiten offenbarte. Sammelte vielfältige Erfahrungen, gründete mein Netzwerk, verlor die Angst zu veröffentlichen und wurde angefragt, andere in ihrem Schreiben zu reflektieren. Vor allem lernte ich, selbstbewusst zu mir zu stehen, mich zu zeigen und aus meiner Ecke ab und zu herauszukommen.
Was ich heute bin
Das Schreiben für mich (wieder)entdeckt zu haben, ist eines der Geschenke aus dieser Zeit. Wer weiß, ob ich heute diesen Blog führte, meine zwei Bücher geschrieben und überhaupt meine Nebenberuflichkeit erleben könnte, hätte ich mich nicht in den 2010er Jahren neu erfunden. Mich an meine Schreibfreude von früher erinnert. Ich habe viele Tagebücher gefüllt, ganze Aktenorder zeugen von meiner – zugegebenermaßen – Aufbewahrungsakribie: anfangs druckte ich tatsächlich wichtige E-Mails aus, kopierte Briefe und bewahrte schriftlich festgehaltene Gedanken auf. Mein Archiv aus dieser Zeit ist groß, auch heute speichere ich alles, lieber doppelt als gar nicht.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Werke unzähliger Dichter und Dichterinnen, Autoren und Schriftstellerinnen nicht entstanden wären, hätten sie nicht jenen Schmerz erlebt, der sie zum Schreiben inspirierte. Ohne Emotionen wäre jeder Text nur eine Aneinanderreihung von Wörtern, ohne Tiefgang und nachvollziehbare Gedanken. Vielleicht wollte mein Leben mir all die Erfahrungen abtrotzen, damit ich heute schreibe, wie ich schreibe; schreibe, worüber ich schreibe; schreibe, wem ich schreibe. Hier an dieser Stelle jetzt dir, da du diesen Artikel gerade liest.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass meine Kinder heute wieder ein fester Bestandteil meines Lebens sind. Wir tauschen uns oft aus, gehen sehr ehrlich und offen miteinander um. Fahren zusammen in den Urlaub und achten aufeinander. Und auch wenn ich die dunklen Jahre echt nicht gebraucht hätte, ist letzten Endes alles für etwas gut gewesen. Ich musste lernen, mein Potenzial auszubauen, meine Talente zu erkennen und bin persönlich daran gewachsen. Ganz sicher stünde ich heute nicht so selbstverständlich, selbstbewusst und selbstbestimmt an meinem Platz.
Mein Fazit am Ende
Wenn etwas endet, kannst du hinwerfen. Verzweifeln und ganz laut Scheiße schreien. Doch das Leben lebt sich weiter. Schwerer womöglich, doch weiter. Wenn du nach einiger Zeit wieder klar denken kannst, findest du hoffentlich im Schlusspunkt die Aufforderung für einen Neuanfang. Mit Liebe im Herzen und der Hoffnung als Kraftquelle, kann dir gelingen, was du dir niemals vorher hättest vorstellen können. Als Schlusswort für meine Geschichte mag gelten: Liebe übersteht die schlimmsten Zeiten, weil sie versteht und weiß und verzeiht.
Dieses Wissen wird meine Familie weitertragen, mit Leben, Taten und Verantwortung füreinander bereichern. Ich bin sehr dankbar, dass ich sie habe.
Mit glücklichen Grüßen
Gabi
Gabi Kremeskötter
Liebe, die durch Worte strahlt
Freie Rede – Schreibworkshops – Lektorat
Mensch Gabi! Dein Beitrag zum Thema Kinder hat mich sehr gerührt. Du schreibst so ehrlich und mutig über dein persönliches Leben. Das machen wirklich wenige Menschen und deshalb ist es sehr besonders. Deine Texte und auch deine Gedichte machen Mut, inspirieren und lassen mich darüber nachdenken, was ich in meinem Leben noch erleben möchte, oder wie ich mich weiterentwickeln möchte.
Wirklich toll!
Liebe Grüße
Angela
Liebe Angela,
ich freu mich wie Bolle, dass du den Weg auf meinen Blog gefunden hast und mir deinen lieben Kommentar hinterlassen hast.
Wir kennen uns seit mehr als vierzig Jahren und haben viele gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen.
Ich weiß genau deshalb deine Worte sehr zu schätzen.
Hab herzlichen Dank!
Grüße nach Berlin
Gabi
Liebe Gabi, dein Beitrag hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Ich hatte das Glück, meine Kinder beim Großwerden begleiten zu dürfen, bis sie in die weite Welt gezogen sind. Deine Geschichte stimmt zuversichtlich, dass sich immer wieder eine Tür öffnet, sobald eine zugefallen ist. Vielen lieben Dank für deine ehrlichen Worte!
Beeindruckend!
Liebe Grüße
Kerstin
Liebe Kerstin,
danke für deine Worte!
Genau so ists: für wirklich wichtige Menschen bleibt die Tür immer einen Spalt offen.
Damit sie diese zum richtigen Zeitpunkt wieder öffen können und damit ein Neuanfang, der Frieden und Glück schenkt, möglich zu machen 🙂
Viele Grüße
Gabi
Liebe Gabi,
Sehr persönlich, tiefgründig und berührend ist dein Artikel. Wahrscheinlich werden es dir deine Kinder heute danken und dich dafür lieben. Und hoffentlich eines Tages auch deinen Schmerz und deine Trauer verstehen können.
Großzügigkeit und Vertrauen hast du gelernt, für dich, in dich und in deine Kinder. Und das sind ganz besondere Eigenschaften.
Ohne diese Zeit könnte ich nicht deine wunderbaren Artikel lesen. Somit ergibt alles einen Sinn, auch wenn du liebend gerne auf deine Erfahrungen verzichtet hättest.
Liebe Grüße, Birgit
Liebe Birgit,
danke auch dir für deine treffenden Worte.
Wir alle durchlaufen in unserem Leben mindestens einmal schwere Zeiten – begründet wodurch auch immer.
Akzeptieren lernen, was nicht mal eben so auf die Schnelle wieder „gut“ wird, Geduld und Vertrauen lernen sind letztens Endes die Schlüssel,
dass Liebe sich durchsetzen kann.
Ich freue mich sehr über dein Kompliment, dass du meine Artikel magst 🙂
Wir lesen uns
Gruß Gabi
Liebe Gabi,
diese ehrliche Geschichte deines Lebens berührt mich tief.
Kinder in die Welt zu entlassen ist im Leben einer Frau ein unglaublich prägender Prozess, das wird mir durch deinen Artikel noch tiefer bewusst.
Ich werde auch einen Artikel dazu schreiben, du hast mich endgültig dazu inspierert.
Danke von Herzen💝
und ganz liebe Grüße
Monika
Liebe Monika,
ich danke dir von Herzen für deinen Zuspruch – und freue mich, dass mein Artikel dich motiviert hat, selbst einen eigenen über dein Erleben zu verfassen.
Ich bin gespannt darauf, ihn zu lesen!
Viele Grüße
Gabi
Liebe Gabi,
so mutig, dass Du das hier teilst. Diese Zeit war sicher sowohl für Deine Kinder als für Dich sehr sehr schwer. Ich war auch wehmütig, als meine Jungs ihre Flügel ausbreiteten, aber das war eher im normalen Lauf der Dinge und dann eben auch mit meiner Ermutigung. Wieviel schwerer muss das für Euch gewesen sein. Schön, dass Ihr heute Wege für Euch gefunden habt und gut miteinander und mit dieser Zeit seid.
Liebe Grüße
Britta
Liebe Britta,
herzlichen Dank für deine mitfühlenden Worte.
Ja, leicht ist anders – aber unser gutes Wiederzusammenfinden hat den Kreis wieder rund gemacht 🙂
Viele Grüße aufs Boot,
Gabi
Liebe Kerstin,
danke für deine Zusammenfassung, die ganz individuell von unseren Geschichten rund ums leere Nest erzählen. Mir hat gut getan, wie wertschätzend du mit unseren Erfahrungen umgegangen bist und ja, mein Artikel war auch für mich eine Art Befreiung, die mir HEUTE, ganz eng mit meinen Kindern abgestimmt, ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht:-)
Hab Dank für deinen Impuls, dieses Erleben zu verbloggen.
Viele Grüße
Gabi
Liebe Gabi, dein Beitrag ist so berührend und authentisch. Ich habe so mitgefühlt und hatte Tränen in den Augen. Es ist beeindruckend wie ehrlich und emotional du schreibst.
Ich wünsche dir weiterhin viel Glück und Erfolg.
Herzliche Grüße von Anita ❤️🙋🏼♀️
Liebe Anita,
herzlichen Dank für deine Worte!
Sie tun mir gut, zeigen, dass ich ausdrücken konnte, was in mir vorging damals, inklusive der gesamten Emotionsskala 😉
Viele Grüße
Gabi