Was ist eine Dinggeschichte und was ein Dinggedicht?

Veröffentlicht am Kategorisiert in Kreatives Schreiben
Hand einer Person mit lackierten Fingernägeln schreibt mit einem gelben Kugelschreiber in ein Notizbuch
Einfach einmal mit Buchstaben und Worten spielen - mit Buchstaben-Roulette

Als Dozentin für KREatives Schreiben liebe ich unterschiedlichste Textformen. Eine sehr interessante Textart ist die Dinggeschichte. Indem wir uns in eine Sache, einen Gegenstand, etwas nicht Menschliches hineinversetzen, nehmen wir seine Perspektive ein und können ganz besondere Geschichten erzählen. Was genau eine Dinggeschichte ist und sie auszeichnet, erkläre ich in diesem Blogartikel. Auch dem Dinggedicht widme ich einen eigenen Absatz.

Ein Ding wird lebendig

Schreibend können wir Sachen wahr werden lassen, die im realen Leben nicht möglich sind. Dazu gehört, dass wir Dinge und Gegenstände ein eigenes Leben einhauchen können. Wir schreiben ihnen Gedanken, Gefühle und menschliche Eigenschaften zu, ohne sie tatsächlich Mensch werden zu lassen. Auch Lebewesen, die nicht menschlich sind, bekommen so eine Stimme, führen Gespräche, bekommen Meinungen und Ausdruck.

Die Dinggeschichte als auch das Dinggedicht erzählen aus der Perspektive des Gegenstandes, so als wäre er lebendig.

Die eine wird in Prosa (=Fließtext) verfasst, das andere in verdichteter Form als Lyrik (=Gedicht).

Beiden liegt ein klarer Perspektivenwechsel zugrunde, durch den wir uns in die Dinge hineinfühlen, die wir erzählen lassen. Wir überlegen, welche Gefühle und Gedanken, welche Beobachtungen könnten diese Dinge machen? Wir erwecken die Gegenstände zum Leben und erzählen aus ihrer Sicht heraus.

Welche Geschichte sich in Dingen verbirgt, liegt im Auge des Betrachters. Als Autorin oder Autor habe ich die Macht, die Geschichte zu gestalten; der Sache ein witzige, ernsthafte, mahnende oder fantasievolle Rolle geben und sie selbstständig sprechen zu lassen.

Grundlage: Gegenstandsbeschreibung

Bevor ich eine Dinggeschichte oder ein Dinggedicht beginne, übe ich mich idealerweise zunächst in einer detaillierten Gegenstandsbeschreibung. Ich schaue sehr genau hin bzw. stelle mir den Gegenstand oder die Sache, die ich lebendig schreiben möchte, detailliert vor. Mich interessieren vor allem

  • Farbe, Größe, Zustand, Alter, Material
  • Wer hat das Ding gemacht, hergestellt?
  • Wo steht der Gegenstand, wie ist er positioniert?
  • Was verraten Licht und Schatten noch?
  • Hat die Sache womöglich einen Geruch, welche Haptik wäre spürbar?
  • Ist das Ding warm oder kalt, glatt oder rau, weich oder hart?
alte, blau lackierte Haustür mit Spinnweben und altmodischer Türklinke, Glaseinsatz mit Metallschutz
Welche Geschichte könnte diese alte Haustür erzählen?

Auf dem Bild oben sind viele Dinge zu sehen, die eine Geschichte erzählen könnten: die Tür oder ihre Klinke, die Schrauben oder der metallene Schutz vor der Glasscheibe. Sie könnten Beobachtungen gemacht haben, Wind und Wetter ertragen, traurig sein, dass niemand sie mehr benutzt.

Noch mehr Inspiration, wie Gegenstände oder Bilder eine Schreibidee erzeugen können, kannst du in einem meiner ersten Blogartikel nachlesen: Bilder und Schreiben – vom Impuls zum Text.

Die Wirkung von Dinggeschichte und Dinggedicht

Dadurch, dass meine Leser:innen meine Geschichte durch die Augen einer Sache erzählt bekommen, gehe ich als (menschliche) Autorin auf deutliche Distanz zu der in meinem Text formulierten Aussage. Ich trete somit als Erzählerin vollkommen in den Hintergrund, überlasse dem Ding die Bühne. Das Ding übernimmt somit meine Autorität, quasi als Allegorie für mein menschliches Bedürfnis oder Erleben.

Gesellschaftskritik, polarisierende Meinungen oder unangenehme Wahrheiten kann ich so um ein vieles „verträglicher“ verpacken, als wenn ich oder echte Personen diese Thesen verlautbaren ließen. Dinggeschichte und Dinggedicht sind daher allein durch ihre spannende Textform wirkungsvoll und überaus facettenreich.

Wenn ein schlecht gepflegtes Möbelstück sich darüber beschwert, dass sein Besitzer es verschmutzen lässt, wird der Mensch sich ihm eher in Mitgefühl nähern, als wenn die Mutter dem Manne vorwirft, sich mit dreckiger Hose auf das Polster zu setzen.

Die Dinggeschichte in der Literatur

In der Literatur ist die Dinggeschichte vielfach in Kindergeschichten und Märchen anzutreffen, einfach weil Kinder noch über ihre unverfälschte Fantasie verfügen und ihnen komplexe Zusammenhänge dadurch sehr gut vermittelt werden können.

Der sprechende Hut bei Harry Potter ist dafür ein gutes Beispiel, denn er wählt die Zugehörigkeit zum Wohnhaus in Hogwarts aus. Die Autorität des Hutes ist unangefochten, ganz egal, welche Konsequenz sich aus dem Haus des neuen Zauberlehrlings ergibt.

Das Dinggedicht als literarische Textform

Das Dinggedicht als literarische Textform machte Rainer Maria Rilke populär. In seinem 1903 verfassten Gedicht Der Panther versetzt er sich in das im Käfig gefangene Tier hinein. Verleiht ihm dadurch seine Stimme und erzeugt unser Mitgefühl. Diese Mahnung an die Gefangennahme und Haltung dieses wilden Lebens hinter Gittern geht wirklich jedem nahe, der dieses Gedicht liest oder hört.

DER PANTHER

IM JARDIN DES PLANTES, PARIS

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 1903

                                                        

Erst 1926 begründete der Germanist Kurt Oppert den Begriff „Dinggedicht“, dem alle inhaltlichen Eigenschaften einer Dinggeschichte innewohnen.

Damit bin ich am Ende meines Blogartikels zu Dinggeschichte und der speziellen Form des Dinggedichts. Habe ich dich neugierig gemacht und du hast Lust, dich einmal selbst an solch einem Text zu versuchen? Dann ran ans Papier oder deine Tastatur, deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt 🙂

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Und bis dahin: Viel Spaß beim Schreiben, mit KREativen Grüßen

Gabi


Lächelnde Frau vor Efeu-Wand mit einem Notizbuch in der Hand, darauf der Claim "Liebe, die durch Worte strahlt"

Gabi Kremeskötter

Liebe, die durch Worte strahlt

Freie Rede – Schreibworkshops – Lektorat


6 Kommentare

  1. Liebe Gabi,
    ich mag „Dinggeschichten“ auch recht gerne. Eröffnen sie doch oft andere Perspektiven, ohne zu sehr in den Angriffsmodus zu gehen. Ich merke allerdings bei mir selbst, dass ich , mich schnell in Nebensächlichkeiten verzettele, wenn ich mich in Dinggeschichten übe.
    Vielleicht schreibe ich mal eine aus der Sicht unseres Bootes, das klappt womöglich besser.
    Liebe Grüße
    Britta

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