Du wolltest auch schon immer einmal ein Gedicht schreiben, aber hast bisher gedacht, das könnten nur DichterInnen? Weit gefehlt, meine Lieblingsgedicht-Form „Zeilenbruch“ ist ganz einfach. Wie ich ihn für mich entdeckte, kannst du übrigens hier nachlesen …
Dichtung ist dicht im reinen Wortsinne, Füllworte, ganze Sätze, wen interessieren die schon. In Fließtexten, auch Prosa genannt, sind sie wichtig, bei Lyrik besticht das Gegenteil: kurz und knapp ein Thema auf das Wichtigste reduzieren, so zumindest verstehe ich Dichtung, ist eine ganz eigene Kunst. Also schnapp dir ein Blatt Papier und einen Stift, natürlich kannst du auch direkt auf dem Handy eine Textdatei öffnen oder dein Tablet oder Laptop nutzen.
Hier kommt meine Anleitung für dein erstes Gedicht, willkommen in der Welt der modernen Lyrik! Keine Angst, das ist wirklich einfach:
Schritt eins: Dein Thema
Am Anfang steht das Thema. Worüber möchtest du schreiben? Die Liebe, die Sehnsucht, die Natur oder womöglich ein Gegenstand, der dich reizt? So viele Worte und Begriffe unsere Sprache hat, so viele Themen sind möglich! Um für den Anfang etwas Leichtes zu wählen, schau dich um in deiner Umgebung, auf deinem Schreibtisch oder Schrank, was siehst und magst du? Ich gehe mit einem Beispiel voran und schreibe über meinen Fotoapparat, der hier auf meinem Tisch liegt. Dem zu Ehren habe ich tatsächlich noch nie ein Gedicht verfasst, ist also definitiv der perfekte Zeitpunkt dafür:-)
Schritt Zwei: Schreibe einen Dreiminutentext
Das Thema haben wir, nun brauchen wir Text! Eine einfache und spontane Möglichkeit, etwas Geschriebenes zu bearbeiten, ist die Verwendung eines sog. Dreiminutentextes. Das ist ein Textfragment, das du in genau drei Minuten schreibst. Nicht lange darüber nachdenken, einfach drauflosschreiben und die Stoppuhr im Auge behalten. Oder du stellst dir einen Wecker stellen, damit du dich ganz auf das Schreiben einlassen kannst:
Lieber Fotoapparat, du begleitest mich schon so viele Jahre, auf Wanderungen, bei Urlauben, bei Festen habe ich dich dabei. Und ganz oft auch hier bei mir daheim. Ich zoome Motive heran oder stelle auf Weitwinkel, dein fokussierter Blick fürs Detail ist meine Leidenschaft. Mir das groß ziehen können, was ich sonst nur mit der Lupe erkennen kann und digital festhalten, was beim Weitergehen sonst nicht mehr in meinem Gedächtnis bliebe: Du bist mir Auge, was mein Schreiben für meine Gedanken ist. Fühle ich mich deshalb nur vollständig, wenn du in meiner Verfügung bist? Wenn ich dich bei mir weiß auf meinen Streifzügen durchs Leben? Ich freue mich über die Schätze, derer ich mich in Ruhe beim Nachbetrachten versichere. Danke, dass deine Technik mich reicher macht!
Schritt Drei: Kürze aus deinem Dreiminutentext alle unnötigen Wörter
Den Prosatext kopierst du nun einfach in eine Textdatei oder nimmst dir, wenn du mit der Hand geschrieben hast, einen andersfarbigen Stift. Lösche bzw. streiche alle Füllwörter, die für die reine Aussage deines Textes nicht mehr nötig sind. Dabei können ganze Sätze wegfallen oder auch nur einzelne Passagen. Diese Arbeit ist die Wichtigste für dein Vorhaben: Je kürzer und knapper dein verbleibendes Wortmaterial ist, umso intensiver wird dein Gedicht. Beim Streichen kann durchaus das eine oder andere Wort verschoben, verändert oder hinzugefügt werden, um dem Rest Sinnhaftigkeit zu verleihen.
Ich zeige dir, was ich meine anhand meines Dreiminutentextes (und ja: Ich habe ihn tatsächlich eben erst verfasst, damit diese Anleitung auch wirklich authentisch und nachvollziehbar ist, auf Perfektion kommt es nicht an! Auch ich habe einmal angefangen und schmunzele im Nachhinein über meine Anfängerinnen-Poesie):
Begleitung seit vielen Jahren, Motive heran oder auf weit, fokussierter Blick fürs Detail meine Leidenschaft, das groß ziehen, was sonst nur mit der Lupe erkennbar, du bist mein Auge, was schreiben für meine Gedanken ist, vollständig mit dir auf meinen Streifzügen durchs Leben, reiche Schätze durch Technik
Schritt Vier: Zeilen brechen
Jetzt kommen wir zum Kern des Zeilenbruchs: Den in den einzelnen, verbliebenen Zeilen fließenden Text bereits VOR ENDE der Zeile in die nächste umzubrechen. Den automatischen Zeilenumbruch ignorieren und ganz bewusst die Wörter in der Zeile enden lassen, wann immer du das möchtest. Die bewusste Entscheidung, mit welchem Wort deine Zeilen endet und die nächste beginnt, betont jeweils das Ende und den Anfang jeder Zeile. Vertieft den Sinn, denn beim Lesen (und laut Vorlesen!) wird bei Gedichten am Zeilenende eine klitzekleine PAUSE eingefügt, die der Zeilenmelodie Gelegenheit gibt zu entstehen, sacken zu können und überhaupt erst wahrgenommen zu werden. Jeder Zeile widmest du somit genau die erhöhte Aufmerksamkeit, eine eigene Betonung zu entwickeln, sie geht nicht mehr im allgemeinen Fließtext unter. Genau das und die Loslösung von grammatikalischen Regeln lässt Lyrik entstehen, Poesie als Kunst von Wort und Melodie. In diesem Prozess des Zeilenbrechens können ebenfalls noch weitere Korrekturen am Text nötig werden, ob und welche das sind, ist ganz deine Entscheidung und unterliegt deinem ureigenen kreativen Prozess.
kamerabegleitet
auf Streifzügen durchs Leben
dein fokussierter Blick
meine Leidenschaft
bist Auge was schreiben
für meine Gedanken ist
Erinnerungsschätze
durch Technik
Schritt fünf: Lese dir deine Zeilen LAUT vor
Wie klingt dein Text? Wenn du ihn nur in deinem Kopf hörst, wirst du die Wortmelodie erahnen, nicht jedoch wirklich hören. Darum mein ultimativer Tipp, der übrigens grundsätzlich für jede Art Text gilt: Lies dir deine Zeilen LAUT vor! Erst dann wirst du hören, spüren und merken, wo etwas hakt oder deine Worte bereits in Einklang sind. Sprache ist immer auch Melodie! Die Betonung, laut und leise, Pausen und Stimmhebung oder -absenkung sind klangliche Elemente, die dein Gedicht dahin transportieren, wo Kunst beginnt. Du wirst beim Lautlesen merken, ob dir dein Text so gefällt. Wenn nicht: Feel free! Das Gedicht ist deines! Also ändere auch jetzt noch, ergänze oder lösche! Nur zu! Ich für mich bin jedenfalls zufrieden mit der Fassung oben:-)
Schritt Sechs: Dein Zeilenbruch in Reinschrift
Für jeden Text gilt: Noch einmal abschreiben in Schönschrift, oder wenn du digital schreibst: ihn ansprechend formatieren. Du kannst die Schriftart und -größe ändern, deine Worte farbig gestalten oder, so wie ich, ein Foto dahinter legen. Dieser Feinschliff wird deinen Zeilenbruch künstlerisch aufwerten und als Geschenk verpackt jeglichen analogen oder digitalen Empfänger, egal ob männlich, weiblich oder divers, erfreuen! So sieht mein Endergebnis aus:

Hat dir meine Anleitung einen kreativen Schub verpasst und die Begeisterung für den Zeilenbruch in dir geweckt? Wenn ja: Schick ihn mir, entweder hier als Kommentar oder per E-Mail. Und solltest du Lust haben, mit mir zu arbeiten, freut mich, auch das zu lesen. Jede Menge Zeilenbrüche von mir findest du zudem auf meinem Instagram-Autorinnen-Profil Juli Norden, auf dem ich annähernd täglich mein Tagesgedicht poste. Komm und folge mir!
Mit kreativen Grüßen, deine Gabi 🙂

Gabi Kremeskötter
Liebe, die durch Worte strahlt
Freie Rede – Schreibworkshops – Lektorat
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Liebe Gabi, ein toller Artikel. Zeilenbruch, wie schön😍. Das einfach „nach Stoppuhr“ einen Text verfassen, kenne ich auch, nur dass im artCounseling als Methode danach ein Bild erstellt wird aus den komprimierten Stücken. Ich werde das auf jeden Fall probieren und klar sende ich Dir dann mein Werk zu. Herzliche Grüße, Susanne😘🙋🏼♀️.
Lieben Dank, Susanne, ich freue mich auf deinen Zeilenbruch:-) Hauptsache, du hast Schreibspaß dabei!
Gruß Gabi
Alte Kredenz
Farbe blättert ab
volle Schublade
viele Schlüssel
große, kleine, rostige
unnütz
ohne Schloß
Liebe Annette,
danke für deinen Zeilenbruch 🙂 Herzliche Grüße zu dir!
Stolzdankbar
stolzdankbar erleichtert Zeit
Spaß Freude mein
alltagsleicht
Wunder stets bereit
mir viele Jahre herrlich
unerschöpflich
Liebe Beate,
herzlichen Dank für deinen Zeilenbruch.
Möge der Gedichte-Virus dich infizieren und dir Schreibfreude schenken 🙂
Herzliche Grüße
Gabi